Süddeutsche Zeitung Wirtschaft Dienstag, 28.Dezember 1999
Sindelfingen auf Kurs gebracht
In Schwäbisch-Detroit stimmt die Kasse wieder
Die Autostadt hat ihre tiefe Finanzkrise durch harte Einschnitte überwunden - und nicht zuletzt durch das Engagement der Bürger
"Wir haben wieder Tritt gefasst", sagt Joachim Rücker (48). Schwarz auf weiß und auf vielen bunten Seiten kann der Oberbürgermeister von Sindelfingen belegen, dass die tiefe Finanzkrise vorbei ist. Das Gewerbesteueraufkommen der großen Kreisstadt, so steht es in dem 564 Seiten dicken Wälzer "Haushaltssatzung und Haushaltsplan 2000", wird zwar im kommenden Jahr von 72 auf etwa 54 Millionen DM schrumpfen. Der städtische Schuldenstand aber sinkt weiter auf nur noch 15,4 Millionen DM. Und dann, im übernächsten Jahr, sagt Rücker, geht es wohl kräftig bergauf: Die Stadt rechne, mit Blick auf die gute Entwicklung bei Daimler-Chrysler, von 2002 an mit Gewerbesteuereinnahmen von wieder mehr als 100 Millionen DM. "Wie es einmal war, wird es nicht mehr", glaubt Rücker, den die Sindelfinger 1993, mitten im finanziellen Elend, zu ihrem Oberbürgermeister gewählt haben. So, wie die Finanzen der Stadt bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre hinein gediehen, war die pekuniäre Lage freilich extrem günstig: Sindelfingen mit rund 60 000 Einwohnern verfügte damals - dank mehr als 50 000 Arbeitsplätzen, davon über 40 000 "beim Daimler" - pro Kopf über die höchsten Steuereinnahmen in der ganzen Republik. Denn auf städtischer Gemarkung steht, mit heute wieder 35 600 Mitarbeitern, die größte deutsche Fabrik von Daimler-Chrysler. Zudem lief damals in Sindelfingen bei der deutschen IBM die Computerfertigung noch auf hohen Touren. Im Jahr 1986, dem fettesten, kassierte die Stadt 267 Millionen DM an Gewerbesteuern.
Weltberühmter Marmor-Streifen
So leichthin, wie das schwäbische Detroit das viele Geld einnahm, so unschwäbisch leichtfertig gab die Stadt es wieder aus: für den Bau von gleich mehreren schönen Fest- und Veranstaltungshallen, für prächtige Schwimmbäder, einen großen Sportkomplex namens Glaspalast, eine städtische Galerie, ein riesiges Rathaus und für viele andere (mehr oder weniger) nützliche Dinge. Zu einem gewissen Weltruhm kamen die Zebrastreifen aus Carrara-Marmor, die sich Sindelfingen hatte legen lassen. Sie waren aller Welt - vom Corriere della Serra über L'Express, die BBC bis hin zum Wall Street Journal verbreitet - die in der Krise der Stadt auch die Krise des Standorts Deutschland sehen wollte, das steinerne Zeichen der Hybris vor dem Fall. Dabei erwies sich der italienische Marmor nicht als die schlechteste Investition: Er brachte, anders als die anderen Prunkbauten, keine Folgekosten.
Das finanzielle Debakel der Stadt begann, als die damalige Daimler-Benz AG die steuerlichen Früchte aus ihrem Umbau zum "integrierten Technologiekonzem" (etwa die hohen Verlustvorträge aus dem Erwerb der AEG und von MBB) zu ernten begann.
Die Gewerbesteuereinnahmen brachen von den fetten 267 Millionen DM von 1986 binnen zweier Jahre auf 144 Millionen DM ein.
Oberbürgermeister Joachim Rücker hat gut lachen. Er ist darauf stolz, dass Sindelfingen die Finanzkrise überwunden hat. Foto: Stadt Sindelfingen |
Der nächste schwere Rückschlag für die Stadtkasse kam mit der konjunkturellen Krise Anfang der neunziger Jahre: Daimler-Benz musste das Sindelfinger Werk abbremsen, und IBM begann mit dem Abbau ihrer Hardware-Fertigung. Im Jahr 1992 verfiel das städtische Gewerbesteueraufkommen von 150 auf nur noch 54 Millionen DM, und es ist seitdem erst im vergangenen und diesem Jahr wieder auf 65 beziehungsweise 72 Millionen DM gestiegen. Daimler-Chrysler zahlt noch immer Gewerbesteuer im wesentlichen nur für sein Fahrzeug-Leasinggeschäft.
So rasch wie die städtischen Einnahmen zwischen 1986 und 1992 verkümmerten, mochten sich der damalige Oberbürgermeister und der Gemeinderat, die sich zuvor jährlich Gesamtausgaben von weit über 400 Millionen DM geleistet hatten, nicht in die neue Lage schicken. Zudem waren da die nur schwer zu bremsenden laufenden Kosten für all die prächtigen Prestigebauten. In der Hoffnung auf bessere Zeiten setzten die Stadtoberen erst einmal auf Kredite. Die Folge war: Die Gesamtverschuldung der Stadt (einschließlich Städtischem Krankenhaus und Stadtwerken) wuchs von 1986 bis zu ihrem Gipfel 1995 von knapp 30 auf fast 179 Millionen DM - pro Einwohner von 532 DM auf 3055 DM.
Die Sindelfinger Bürger
zogen ihre Konsequenzen. Bei der Oberbürgermeister-Wahl 1993 wandten sie sich
von dem alten (parteilosen) Stadtoberhaupt ab und wählten den SPD-Mann Rücker,
obwohl der kein ausgewiesener Finanzexperte war. Rücker, aus einem schwäbischen
Pfarrhaus stammend, hatte zuletzt außenpolitisch die SPD-Bundestagsfraktion
beraten. Zuvor war er im Dienste des Auswärtigen Amts gestanden, zuletzt als
Konsul in Detroit. Seine Erfahrungen aus der amerikanischen Autometropole schienen
offenbar den Wählern der schwäbischen Autostadt eine gewisse Gewähr zu sein
für die Lösung der städtischen Misere, ebenso wie die Tatsache, dass Rücker
studierter Wirtschaftswissenschaftler ist.
Der promovierte Volkswirt
der Freiburger Schule tat als Oberbürgermeister, was man von ihm erhofft hatte:
Er brachte Stück um Stück die städtischen Einnahmen mit den Ausgaben wieder
in Einklang, er baute rigoros die Schulden ab und er lockte neue Unternehmen
in die Mercedes-City. "Der Leidensdruck war dafür sehr gut", erinnert sich Rücker
an das weitgehende Einvernehmen in Sindelfingen, dass angesichts der Krise alle
den Gürtel enger zu schnallen hätten.
Aber auch das große Engagement der Bürger, die nun selbst mit anpackten, half dem Sanierer und seinen Helfern.
Bei seiner Rosskur für die städtische Finanzen verband der Oberbürgermeister, gestützt durch den Gemeinderat, eisernes Sparen mit einer erheblichen Versilberung städtischen Vermögens. Mit Grundstücksverkäufen an private Investoren, zum Beispiel siedelten sich Ikea, Metro mit einem Einkaufszentrum und eine Tochter von Hewlett-Packard neu an, der Veräußerung einer Wohnungsbaugesellschaft und städtischer Wohnungen, der Trennung von Anteilen an den Stadtwerken mobilisierte die Stadt insgesamt 70 Millionen DM. Und da sie nahezu kein neues Investitionsprojekt anfasste und seit 1995 keine neuen Schulden mehr macht, schrumpfte der Schuldenberg jäh zusammen.
Ende dieses Jahres ist die Stadt ohne Städtisches Krankenhaus und Stadtentwässerung) nur noch mit knapp 19 Millionen DM verschuldet, hat ab er eine Rücklage von 42 Millionen DM. Vor vier Jahren standen ihre Schulden noch bei über 140 Millionen DM. Zugleich nahmen Rücker und seine Sanierer, mit der Devise "schlankere Verwaltung", die laufenden Kosten unter die Lupe.
Ohne betriebsbedingte Kündigungen hat die Stadt die Zahl ihrer Bediensteten (ohne die Eigenbetrieb) von 1094 im Jahr 1992 über 943 im Jahr 1995 auf inzwischen noch 765 Personen reduziert. Die Personalkosten sind damit von fast 70 Millionen auf inzwischen noch 58 Millionen gesunken.
Geputztes Innenleben. Der Marktplatz mit dem Freundschaftsbrunnen zeigt die 1ndustriestadt von ihrer schönen. Seite. Foto: Stadt Sindelfingen |
Auch bei den Sachkosten machte die Stadt kräftige Abstriche. "Die Grünanlagen sind jetzt nicht mehr so gut gepflegt wie früher ", nennt der Oberbürgermeister als ein Beispiel dafür, dass damit Sindelfingen natürlich Abstriche an dem zuvor hohen Standard der städtischen Leistungen machen musste.
Beim Sparen legten sich auch die Bürgerinnen und Bürger ins Zeug: Sie übernahmen etwa den Betrieb einer Sporthalle, von Stadtteilbibliotheken und sie unterstützen die städtische Galerie. Ein Hallenbad zum Beispiel, das geschlossen werden sollte, betreibt nun ein Verein: Der Betrieb kostet die Stadt im Jahr nur noch die Hälfte.
Erster Produkthaushalt
"Die Kameralistik verführt zu einer unvorsichtigen Haushaltsführung", erklärt Rücker eine der Ursachen der vergangenen Sindelfinger Sünden. Aber auch auf dem nun wieder vergleichsweise sicheren, wenn auch viel bescheideneren Niveau sieht er für die städtischen Finanzen noch Risiken. Deshalb will die Stadt zur kaufmännischen Buchführung übergehen.
Für das Jahr 2000 kann der Gemeinderat erstmals einen "Produkthaushalt" beschließen: Genau 316 städtische Dienstleistungen bekommen als "Produkte" je ein "Preisschild", also Kosten, zugeordnet. Damit soll der "Dienstleistungsbetrieb Stadt" effizienter als bisher geführt und sicherer gesteuert werden. Aber bis die schwäbische Industriestadt echt kapitalistisch rechnen kann, dauert es noch ein bisschen. Erst einmal muss ihr größter potenzieller Steuerzahler, das Daimler-Chrysler-Werk für die Montage der C-, E- und S-Klasse, wieder richtig Gewerbesteuer abführen. "Bei kaufmännischer Buchhaltung", sagt Rücker, "schrieben wir zur Zeit noch immer rote Zahlen."
Felix Spies